Im September 2050 bin ich als Zeitzeuge in einer Schulklasse in der Alan-Kurdi-Oberschule in Brandenburg eingeladen. Alt bin ich geworden, meine Haare sind weiß, ich brauche einen Stock zum Gehen, die Hände zittern etwas. Der Wunsch der Schulklasse ist es, zu erfahren, warum damals 2020 so wenig gegen die Verbrechen im Mittelmeerraum gemacht wurde. Die 14jährigen, selbstbewussten jungen Menschen schauen mich neugierig an. „Stimmt es, dass damals Menschen in Europa jahrelang in Lagern ohne Toiletten, Waschmöglichkeiten und ausreichend Essen und in mitten in ihren Fäkalien leben mussten?“ oder „Stimmt es, dass nach dem großen Brand in Moria die Verantwortlichen wieder ein genauso schlimmes Lager errichtet haben?“ sind Fragen, die die jungen Menschen interessieren. Und dann kommt sie wieder, die Frage aller Fragen, die immer gestellt wird: „Warum habt ihr nichts dagegen getan?“
Bei der Frage fällt es mir immer schwer zu antworten, mein Hals wird trocken, meine Augen werden nass, es fällt mir schwer zu antworten. Ich sage „Es waren nicht alle so, wir haben damals was probiert, uns bemüht… wir konnten nur punktuell unterstützen, ein Tropfen auf den heißen Stein…. aber wir waren zu wenige.“ Die jungen Leute schauen mich verständnislos an….
Zeitsprung. Ich erinnere mich wieder, 2020, die Bilder sind wieder da, als wäre es gestern….Ich sitze im Flieger von Lesbos zurück nach Deutschland, mitten in der Corona Zeit. Die Eindrücke der vergangenen Tage ziehen an mir vorbei. Die vielen tollen Gespräche mit den zahlreichen Aktivist*innen und Schutzsuchenden, das kreative Engagement, aber auch die Verzweiflung aller noch mit Empathie ausgestatteten Menschen. Die Soldaten, die mit Metalldetektoren auf der Hauptstraße im Lager Munitionsreste suchen, dazwischen Kinder die spielen. Eine Volontärin erklärt mir „Du musst Dir vorstellen Axel, zuerst war Corona, dann kam der Brand und die Menschen waren auf der Straße. Dann das Verbot, die Menschen zu versorgen. Wie im Kriegsgebiet versuchten wir, Nahrung und Wasser zu den Menschen zu schmuggeln. Tränengas auf Kinder… Dann kam das neue Lager…wir können nicht mehr. Erwarte nicht, dass Du mit irgendjemand hier normal diskutieren kannst, wir agieren nur noch aus dem Bauch…“. Die Realität hier sieht sehr anders aus als die in Deutschland. Die Verzweiflung der Aktiven und der Geflüchteten ist greifbar, spürbar, nicht auszuhalten. Wie um Himmels willen sollen wir angemessen reagieren auf die kranke Idee, eine Hölle Moria reloaded neu zu errichten?
Einige Hilfslieferungen sind schon angekommen, viele werden bald Lesbos erreichen. Eine tolle Zivilgesellschaft will helfen. Doch dabei ist es sehr sinnvoll, die Hilfe eng mit lokalen NGOs und Aktiven vor Ort zu koordinieren und nicht von Deutschland aus in Aktionismus zu verfallen. Es wäre fatal, wenn „Hilfe“ geleistet würde, die gar nicht oder nicht so dringend gebraucht wird, und gleichzeitig das, was vor Ort wirklich fehlt, übersehen würde. Während letzte Woche noch viele davon ausgingen, dass die Menschen noch lange auf der Straße leben müssten, war dann plötzlich die Empörung groß, als die Idee eines Freiluftgefängnisses grassierte, was dann aus welchen Gründen auch immer doch nicht so rigoros durchgezogen wurde, wie befürchtet. Und es wäre naiv zu glauben, dass wir uns jetzt in ruhigen Fahrwassern aufhalten würden, das Gegenteil ist der Fall. Die nächste Katastrophe schaut schon um die Ecke, der Winter kommt, Nässe, Kälte, Stürme ….
Moria reloaded ist die neue, alte Hölle Europas mit einer großen Symbolwirkung. Aber ich wünsche mir eine genauso große Aufmerksamkeit für die anderen Inseln mit nicht weniger grausamen Bedingungen. Ich wünsche mir die gleiche Aufmerksamkeit auch für den Balkan, wo wir diesen Herbst erstmals Transporte hinschicken werden. Jetzt, nachdem die mediale Aufmerksamkeit wieder nachlässt, obwohl nichts gelöst ist, wünsche ich mir vor allem, dass die Menschen in Moria reloaded nicht wieder vergessen werden. Wir haben bittere, nicht auszuhaltende Armut an den Toren Europas, tut etwas dagegen! Alle können etwas tun, und müssen etwas tun! Die Bilder, die ich vor mir sehe, sind einerseits die feiernden Menschen in Mytilini, anderseits die verdreckten, hilflosen Menschen im Lager, die in einer Art Mad Max Welt versuchen zu überleben – Entfernung 10 km. Es sind aber auch nicht „nur“ die Menschen in den Lager. Wir werden diesen Herbst erstmals mit einem Community—Center in Athen zusammenarbeiten. Haben Menschen nämlich endlich ihren Asylantrag genehmigt bekommen, stehen sie in Griechenland oftmals vor dem Nichts: Keine Gesundheitsversorgung, keine Arbeitserlaubnis, keine Papiere, keine Unterkunft. Das Elend auf dem Victoria Platz in Athen spricht für sich. Wir brauchen keine reine Symbolpolitik! Eine andere Migrationspolitik insgesamt wäre sinnvoll und ist möglich und nötig!
Es ist sicherlich für die Reisenden im neuen Lager hart zu verstehen und zu akzeptieren, aber sie haben etwas erreicht. Druck auf die Politiker*innen ist entstanden. Das Thema ist und war wieder präsent, auch wenn alles, was den Verantwortlichen darauf einfällt, Ignoranz oder menschenverachtende neue Vorhaben, wie die „Abschiebepatenschaften“ im „Migrationspakt“ sind. Es geht auch nicht nur um humanitäre Hilfe. Es ist ein politisches Problem, was endlich auch politisch gelöst werden muss. Deshalb sind die Aktionen von der Seebrücke oder Europe must act die richtige Antwort, auf die ….
Zack! Ich werde aus meinen Erinnerungen gerissen…Wieder eine dieser Fragen von einem jungen Menschen im Klassenzimmer der Alan-Kurdi-Oberschule im Land Brandenburg im Jahr 2050: „Wie habt ihr das damals geschafft, mehr Menschen dafür zu interessieren, so dass die Lager dann doch aufgelöst wurden?“ Auch diese Frage kommt bei jedem Gespräch mit jungen Menschen, diese beantworte ich sehr gerne: „Also, die Idee ist folgendermaßen entsta….“