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Same, same but different – Moria reloaded

    Foto: Wir packen’s an

    „In der Brandnacht saßen wir im Auto. Von allen Seiten schlugen die griechischen Einwohner*innen mit Eisenstangen auf das Auto ein!“ berichtet mir eine Helferin mit Tränen in den Augen. Es gibt viele verschiedene Theorien, wie das Feuer entstanden sein kann. Die Erzählungen ähneln sich darin, dass die Brandstiftung koordiniert stattgefunden haben muss und dass es im Vorfeld wohl Warnungen im Lager gab. Die genauen Hintergründe werden wohl nie aufgeklärt werden, ebenso wenig, ob es Tote gab. Wir befinden uns übrigens immer noch in Europa, einem Kontinent, der sich viel auf seine Werte einbildet… Es gibt keinerlei Statistiken über Verletzte und die Aussagen, dass der Brand keine Todesopfer gefordert habe, sind für mich wenig glaubhaft. Gerüchte und Spekulationen sind die Folge.

    Ich fahre zum neu errichteten Lager, an dem ich verabredet bin. Es ist kein besonders stürmischer Tag, aber hier an dieser Stelle der Insel ist der Meereswind sehr unangenehm. Staub wird aufgewirbelt, die Wellen rollen unablässig in Richtung des neuen Lagers. Gleich nach dem Eingang beginnt die sogenannte Corona-Isolierzone. Ein Stückchen Erde, abgeriegelt durch scharfen Stacheldraht, Kinder spielen dazwischen. Ein Mann steht im salzigen Meerwasser und versucht seine Wäsche zu säubern, Waschmaschinen gibt es nicht. Duschen hingegen schon – diese sind aber nicht angeschlossen. Ich sehe einige Dixiklos, deren Inhalt auch abgepumpt wird.

    Das Lager wirkt auf den ersten Blick aufgeräumt und es gibt eine Müllentsorgung. Wie lange diese aufrecht erhalten wird, bliebt abzuwarten. Die meisten Zelte sind sehr einfach, mit einlagigen Planen abgedeckt und stehen auf der blanken Erde. Einige Zelte haben einen Regenschutz, aber maximal die Hälfte, wenn überhaupt. In jedem Zelt „wohnen“  zwei bis drei Familien, was acht bis zehn Menschen entspricht. Mehrere Zeltbewohner*innen beschweren sich bei mir über diese Bedingungen, ich kann es nur leider nicht ändern, was dann freundlich akzeptiert wird. Dafür wird mir ein Tee angeboten.

    Foto: Limbo Documentary

    Wer sich einmal einen Tag in einem solchen Lager aufhält, erlebt hautnah, in welchem Dreck und Staub die Menschen leben müssen. Hinzu kommt: Es gibt so gut wie keinen Schatten, keinen Baum, nichts. Die griechische Sonne brennt unbarmherzig, ich trinke permanent Wasser. Wie muss es sein, hier jeden Tag zu leben? Wenn die Sonne im Herbst von Stürmen, Regenfällen und heftigem Wellengang abgelöst wird, wird sich die Situation für die Menschen weiter verschlechtern. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass dann von den Hügeln Bäche herabfließen oder Wellen aus dem Meer das Lager unterspülen werden. Im Winter sind Temperaturen um den Gefrierpunkt keine Seltenheit auf Lesbos. Same, same but different: Die Lebensbedingungen im neuen Lager werden ähnlich unwürdig wie in Moria sein, diesmal kommt noch das Meer dazu.

    Foto: Wir packen’s an

    Das Land für das angeblich provisorische Lager ist auf 5 Jahre gepachtet. Verwundert sehe ich, dass Menschen aus dem neuen Lager raus und rein gehen. Nachdem ich meine Kontaktpersonen frage, wird mir bestätigt, dass das Lager, anders als angekündigt, doch nicht abgeriegelt ist. Einige NGOs hatten angedroht, sich komplett zurück zu ziehen, sollte die Idee eines Closed-Camps weiterverfolgt werden. Allerdings wurde der verhängte Corona-Lockdown auch nicht offiziell aufgehoben. Das heißt, die Behörden können das Lager jederzeit wieder abriegeln…

    Einmal am Tag gibt es Essen. Einige NGOs verteilen auf dem Parkplatz eines nahen Supermarktes zusätzliche Nahrung. Auch unser „Wir packen’s an“ Transport mit Reis, Linsen und Konserven müsste morgen endlich auf Lesbos ankommen. Die Elektrizitätsversorgung des ersten Lagerabschnitts scheint zu funktionieren. Als gelernter Elektroniker wird mir allerdings schlecht, wenn ich sehe, wie versucht wird, immer mehr Verteilungen zu basteln. Dazwischen wieder viele Kinder. Um die Steckdosen herum sitzen zahlreiche Menschen, die auf Elektrokochplatten Essen zubereiten. Dies wird nachvollziehbar, wenn man tiefer ins Lager hineinläuft. Dort nämlich hört die Elektrizitätsversorgung plötzlich auf. Die Kochplatten werden von offenen Feuerstellen mit notdürftig zusammen gesuchtem Holz abgelöst. Überhaupt fällt auf, wie kreativ die Menschen versuchen, aus dem Wenigen, was ihnen zur Verfügung steht, etwas zu machen. Der herumliegende Schotter wird eingesammelt  und vor dem jeweiligen Zelt verteilt, um eine Art Drainage herzustellen.

    Foto: Wir packen’s an

    Das Lager wurde auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der Armee errichtet. Davon zeugen Militärangehörige, die auf den umliegenden Hügeln nach Munitionsresten suchen. 10.000 ehemalige Bewohner*innen von Moria „leben“ nun hier. Weitere 2.000-3.000 Menschen halten sich noch außerhalb des Lagers auf.

    Nach meinem Rundgang steht fest: Das neue Camp ist kein geeigneter Platz für 12.000 Menschen. In wenigen Wochen wird das neue Lager nicht mehr vom alten zu unterscheiden sein. In Berlin demonstrierten am Sonntag 11.000 Menschen für eine Abkehr von der unmenschlichen Asylpolitik. Ich hatte den 17-jährigen Mustafa, der neun Monate in Moria war, gebeten, für diese Demo einen Audiobeitrag einzusprechen. Darin sagt er: „Ich rufe zu einem Kampf auf gegen ein unfaires System, das Hoffnung, Frieden, Jugend und Träume auf ein besseres Leben vernichtet.“ Moria reloaded ist keine Alternative.

    Zwischen den NGOs wird ein erbitterter Diskurs darüber geführt, ob und wie diese im neuen Lager tätig sein wollen. Leiden werden die Menschen dort sowieso, egal wie die Entscheidungen der einzelnen Organisationen ausfallen werden. Ist das radikale Ablehnen einer falschen Idee mit allen Konsequenzen sinnvoll, weil damit ein grausames System stabilisiert wird? Oder überwiegt die humanitäre Notwendigkeit Menschen zu helfen, die im Stich gelassen werden? Niemand hat eine passende Antwort. „Europa muss sich für Freiheit einsetzen und gegen die Ursachen, die zur Flucht führen. Es hat eine Verantwortung gegenüber den Menschen auf der Flucht und muss ihnen eine Lebensperspektive ermöglichen.“, führt Mustafa in seinem Audio-Beitrag weiter aus. Dem ist nichts hinzuzufügen. Moria reloaded ist keine Lebensperspektive. Es ist die perverse Schande Europas in einem neuen, notdürftigen und schon rissigen Gewand. Same, same but different….