Zehida fährt mich zur Grenze. Es sind nur wenige Minuten. Wir verabschieden uns herzlich. Ich laufe über die bosnisch-kroatische Grenze, auf der anderen Seite wartet ein Bekannter von Zehida, der mich nach Zagreb auf den Flughafen bringt. Die Grenzbeamten mustern meine Papiere, den Covid 19 PCR Test will niemand sehen. Nach nur 10 Minuten bin ich wieder in der EU. Irre. Eine tödliche, grausame Grenze. Die einen überqueren sie in 10 Minuten, andere brauchen dafür 50 bis 60 Versuche und mehrere Jahre, werden entdeckt von deutschen Drohnen, und schaffen es dann doch nicht, die zwei eiskalten Flüsse zu durchqueren oder der von Deutschland unterstützen, und mittlerweile international kritisierten kroatischen Polizei zu entkommen. Es bleibt also die Frage: Wenn die gefährliche EU-Außengrenze der Grund für Menschenrechtsverstöße, Knochenbrüche, frierende und hungernde Menschen und Tote ist – warum wird dann Bosnien-Herzegowina nicht in die EU aufgenommen? Dann wäre es auch einfacher, Hilfsgüter in das Balkanland zu schicken…
Blick zurück: Was waren das für 2 Wochen! Insgesamt haben wir mit ca. 40.000 € Menschen auf der Flucht unterstützt: Wir kauften Schlafsäcke, Schuhe über Schuhe, Werkzeuge, Unterwäsche, Socken, Medikamente, ein mobiles Ultraschallgerät, Lebensmittel … und natürlich die Sachen für die Verteilungen in Lipa. Lipa… Einöde im Schnee, so bekannt in der internationalen Medienwelt und so grausam. Das Bild, das mir als erstes in den Sinn kommt, ist die Schlange notdürftig gekleideter Männer, die nicht gesund aussehen, die frieren, die hungern, im Kontrast zur Spezialpolizei mit Knüppeln. Was sind das für Bilder? Frierende Menschen in Flip-Flops und daneben martialische Polizisten mit Knüppeln? Ich erinnere mich: Ich gehe in eins der neu errichteten Zelte und mache ein paar Bilder. Ein Polizist kommt angerannt und sagt panisch: „Keine Bilder, keine Bilder….das ist noch nicht fertig.“ Als ich das zweite Mal in Lipa bin, merke ich die Verschärfung der Spielregeln. Ein ARD Team, was eigentlich eine Live Schalte in die Tagesschau mit uns machen will, wird nicht reingelassen. Das italienische Fernsehen wiederum ist drin. Logik ist eh nicht so angesagt im Lager. Wir verteilen 1.000 Paar neue Schuhe, finanziert von Wir packen’s an. Ich sehe viele glückliche Gesichter. Als ich das dritte Mal nach Lipa will, merke ich schon im Vorfeld, dass es repressiver wird. Wir müssen Passkopien vorher einreichen, maximal 5 Personen dürfen mit.
Schon beim Bezahlen der Hoodies, Jacken und Unterwäsche für 1.000 Menschen scheint es Probleme zu geben. Die Kreditkarte will nicht. Ein Alptraum wird wahr. Alles ist organisiert, alle warten nur noch darauf, dass ich bezahle. Und jetzt funktioniert die verflixte Karte nicht. Am Tag vorher hatte ich extra das Kreditkartenlimit überprüft. Als ich beim Kreditkartenservice anrufe, stellt sich heraus, dass es an dem Geschäft liegt. In einem Land mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von ca. 400 € lassen sich nicht einfach so 9.000 € abbuchen, das Gerät weigert sich. Schöne Anekdote am Rande: Die Mitarbeiterin der Kreditkartenfirma outet sich am Telefon als Fan von Wir packen’s an. Ich bezahle dann am Nachmittag häppchenweise, das geht.
Aber zurück zum Lager. Als ich den Feldweg zum Lager fahre, habe ich etwas Angst mit meinem Leihwagen, der Weg hat fette Löcher, es liegt viel Schnee. Wie immer ist es sehr kalt hier oben, in den Bergen. Glücklich, fast angekommen zu sein, werden wir an einer kleinen Steigung von der Polizei angehalten. Ich denke: Schiet, hier komme ich mit dem Auto im Schnee nie wieder los! Der Polizist deutet mit dem Finger auf die Kamera meines Beifahrers. Er ist mitgekommen und wollte ein paar Fotos machen. „No fotos!“. Ich nicke und will weiterfahren, der Polizist wedelt wild mit den Armen. Mein Beifahrer sagt: „Der will, dass wir umdrehen.“ Umdrehen? Ich fange an zu diskutieren: Wir sind angemeldet, bitte lassen sie uns durch. Es hilft nichts. Schließlich parke ich das Auto und steige aus. Diskussion mit der bosnischen Polizei, ich kann kein bosnisch, sie nur rudimentär englisch. Es werden mehr Polizisten. Für mich steht außerfrage, dass ich umkehre. Wenigstens wird erreicht, dass ich im 4-WD Fahrzeug der Polizei, zusammen mit 3 Polizisten, die mich eskortieren, zum Roten Kreuz und Ipsia komme. Es scheint ein Missverständnis zu sein, wir dürfen schließlich rein.
Die Verteilung fängt an. Uns wird deutlich klar gemacht, dass wir nicht durch das Lager laufen sollen, mit niemanden reden, keine Fotos machen. Das Gebiet wäre jetzt Militärgebiet. Befinde ich mich also in einer Kaserne mit Kriegsrecht? So fühlt es sich zumindest an. Nichts für einen alten Kriegsdienstverweigerer wie mich. Ich helfe beim Verteilen, ein langer Tisch mit Hilfsgütern ist aufgebaut. Die Lipa Bewohner werden einzeln eingelassen und gehen von Station zu Station, bekomme in ihren kleinen Plastebeutel je ein Kleidungsstück geworfen. Draußen vor dem Eingang eine endlos lange Schlange im Schnee, die Menschen stehen wieder dicht hintereinander gedrängt. Es wird unheimlich aufs Tempo gedrückt. Warum eigentlich? Es ist doch vollkommen egal, ob das Ganze eine Stunde länger dauert. Hier draußen ist nichts, nur Schnee und Kälte, die Menschen haben nichts zu tun, es gibt keine Termine oder Beschäftigungen. Wozu die Hatz? Ich versuche ein wenig auf die Menschen einzugehen, manche wollen eher schwarze, rote oder gelbe Hoodies, manche lieber Größe M, andere Größe XL. Manche raunen mir ein “Thank you brother“ zu. Ich werde immer wieder ermahnt, dass dafür keine Zeit wäre, Tempo, Tempo, Tempo… Als ich ein kleines Video mache, werde ich mit ersten Blick ebenfalls von der Polizei belehrt: „Das ist das letzte Mal!“.
Wovor haben die Behörden Angst? Die Bilder soll niemand mehr sehen? Ein Journalist erzählt mir, als sie nachts eine Kamera-Drohne über das Lager haben fliegen lassen, wird das Licht ausgeschaltet. Was wir nicht sehen, existiert nicht für die Weltöffentlichkeit?
Jedenfalls hat Wir packen‘s an 2 Massenverteilungen im Kager Lipa finanziert und mit Hilfe unserer Freund*innen von SOS Balkanbrücke verteilt. Eine Kooperation auch mit anderen Partner*innen, ein großes internationales Joint Venture. Das Ganze klingt spektakulär, der Zugang zum Lager ist sehr reglementiert. Ich habe trotzdem das Gefühl von Hilflosigkeit. Die Situation hat sich ein wenig verbessert, es fehlt aber noch an vielem, unsere Verteilungen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Manche behaupten in den Medien, Lipa wäre schlimmer als Moria. Wozu die Vergleiche von Leid, und warum immer nur Moria und jetzt Lipa als Maßstab? Muss Leid spektakulär und ein Superlativ sein, was ist mit den Menschen in Velika Kladusa oder auf den anderen, griechischen Inseln bzw. dem Festland?
Die Journalist*innenkarawane wird bald weiterziehen, aber nichts ist gelöst. Klar haben die Menschen in Lipa jetzt Schuhe, ich hoffe sie halten eine Weile. Und klar haben die Menschen jetzt ein paar Klamotten, ich hoffe sie wärmen etwas. Aber Fakt ist, es hocken immer noch 1.000 Menschen in Schnee und Eis, unzureichend ausgestattet, weit weg von der nächsten Stadt, bei eisigen Temperaturen, ohne ausreichende medizinische Versorgung. Ca. 40 Personen in einem Zelt, keine Duschen, keine Beschäftigung, keine Hoffnung, keine Perspektive – nur Schnee und Eis.
Mir kommt immer wieder ein Geflüchteter aus Marokko in den Sinn, den ich im Februar letzten Jahres in Thessaloniki kennen gelernt habe. „Du spielst mit deinem Leben, wenn du flüchtest. Es ist gefährlich!“ meinte er damals. Die Bedingungen für Geflüchtete in Bosnien, nicht nur in Lipa, sind lebensgefährlich. Es sollen ca. 10.000 Geflüchtete sein, auch Frauen und Kinder. Sie stecken hier fest, weil die EU die Festung Europa hochgezogen hat, damit niemand in die reicheren Länder des Nordens kommt, und damit den nächsten Wahlerfolg gefährdet. Sie wollen einfach bei unserer großen „Macht den Planeten kaputt und lebe auf Kosten der Anderen“ Party ein klein wenig mitmachen, suchen eine Perspektive und streben ein „normales“ Leben nach unseren Maßstäben an. Nur: Die Türsteher lassen sie nicht rein. Empathie scheint schwierig zu sein für den Norden Europas. Es gibt für den maßgeblichen Verursacher der Katastrophe keinen Grund, mit seinem blutigen Finger auf Bosnien zu zeigen.
Als ich an einem der „Lipa-Abende“ am Tisch mit anderen lokalen NGOs sitze, machen sich diese lustig über die vielen Social-Media-Posts im Zusammenhang mit Lipa: Schlafsäcke geschickt, Schuhe geschickt, Duschen geschickt… Eine Aktivistin erzählt, sie würde mittlerweile Screenshoots machen, wenn sie wieder so einen Post sieht und mitzählen. Wo ist das alles? Etwas mehr Transparenz fände ich ganz gut in der NGO-Welt, die Menschen frieren, haben sehr wenig oder nichts, obwohl anscheinend ganz viel geschickt wird.
Was bleibt also? Als ich bei der tollen bosnischen Aktivistin Zehida einen kleinen Film drehe, erzählt sie mir von den jahrelangen Bedrohungen von bosnischen Faschisten, von den Mühen, das Leid der Geflüchteten etwas zu lindern. Irgendwann frage ich sie, was sie sich von den Deutschen wünscht, sie antwortet sinngemäß: „Bitte macht Druck. Wirkt auf Eure Politiker ein, damit sich was ändert. So wie hier sollte kein Mensch leben müssen.“
Bitte macht Druck. Wirkt auf Eure Politiker ein, damit sich was ändert. So wie hier sollte kein Mensch leben müssen. Danke.
=> Tag 1: Unsere Ankunft in Bosnien
=> Tag 2: Die „Hunger Games“ von Velika Kladuša
=> Tag 3: Nothilfe gegen den Hunger in Velika Kladuša
=> Tag 4: Im Winterwald von Velika Kladusa
=> Tag 5: 1.000 Paar Schuhe gegen die Kälte
=> Tag 6: Warme Schuhe für Lipa
=> Tag 7: Medizinische Hilfe für Bosnien
=> Tag 8: Winterhilfe für 1.000 Menschen
=> Tag 9: Winterkleidung für Lipa