Unser Geschäftsführender Vorstand Axel Grafmanns schreibt zum 1. Mai über Privilegien, Rechte für Alle und „Identitätspolitik“:
Mal angenommen, ich treffe einen 18-jährigen Jugendlichen in einem griechischen Flüchtlingslager. Er friert, ist schlecht ernährt, sein durchnässtes Zelt steht zwischen Fäkalien und Müllbergen. Seit zwei Jahren hofft er auf die Erlaubnis, nach Deutschland zu können. Als er 16 war wurde sein Dorf bombardiert, er floh, seine Familie verstreute sich in verschiedene Länder. Auf seiner langen Flucht wurde er mehrmals ausgeraubt und misshandelt. Doch auch seine frühe Jugend war wenig paradiesisch, schon mit 14 half er seinem Vater im Handwerksbetrieb. Vom Schleppen der schweren Zuckersäcke hat er bis heute starke Rückenschmerzen. Noch bevor er anfängt zu reden, sage ich: „Denke bloß nicht, in Deutschland sei alles super. Momentan dürfen wir ab 22 Uhr nicht mehr raus und seit 16 Monaten war ich nicht mehr bei einem Konzert. Meine Freunde habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Geschäfte und Kultureinrichtungen sind geschlossen, viele Menschen können nicht arbeiten und kommen deswegen in eine sehr schwierige Lage. Außerdem sind unsere Intensivstationen am Limit“.
Es stimmt: Die Covid-19-Pandemie verschärft in Deutschland soziale Ungleichheit. Während die reichsten Deutschen dank der Rettungspakete für Banken und Konzerne von milliardenschweren Aktiengewinnen profitieren, stehen prekäre Soloselbständige vor dem Bankrott, sind unzählige Arbeiter:innen in Kurzarbeit oder sogar arbeitslos. Verlassen wir aber die eurozentristische Blase und schauen auf die Welt, verschiebt sich die Perspektive: Während die reicheren Länder des sogenannten globalen Nordens wie USA, Kanada, die EU-Staaten, Großbritannien oder Israel Impfstoffe mehrfach gesichert haben, geht ein großer Teil der restlichen Welt leer aus. Länder des sogenannten globalen Südens verfügen über sehr wenig oder gar keine Impfdosen bzw. können sie sich nicht leisten. Gleichzeitig wird eine Aufhebung des Patentrechts verhindert, so dass die ärmeren Länder nicht selbst Impfstoff herstellen können und im Norden weiterhin die Pharma-Profite sprudeln. Dazu kommt, dass die ohnehin labilen Gesundheitssysteme des Südens in der Pandemie endgültig zu kollabieren drohen.
Es stellt sich also die Frage: Sollten wir Ungerechtigkeit im Inland also nicht mehr kritisieren, weil sie global viel größer ist? Oder anders herum, gerade heute zum 1. Mai betrachtet: Sollten wir uns primär auf Ungerechtigkeit im Inland konzentrieren? Kann man ein Leid gegen ein anderes aufwiegen, kann man Leid und Ungerechtigkeit überhaupt vergleichen? Mir geht es um zwei Dinge: Privilegien und internationale Solidarität. Im aktuellen Diskurs zur „Identitätspolitik“ wird darüber heftig gestritten. Dabei heißt es schon im „Erfurter Programm“ der SPD von 1891: Man bekämpfe „nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse“.
Es ist es Privileg, in absehbarer Zeit gegen Corona geimpft zu werden. Es ist ein Privileg, ausreichend Sauerstoff zu bekommen, wenn man schwer an Corona erkrankt. Es ist ein Privileg, immer noch genug Geld zu haben, um sich ein Dach über dem Kopf und jeden Tag ein gutes Essen auf dem Teller leisten zu können. Es ist ein Privileg, sich im Homeoffice in Sicherheit seiner Karriere widmen zu können, während mehrheitlich Frauen in Pflegeberufen für wenig Geld die gefährliche Corona-Pflegearbeit leisten, unbezahlt den überwiegenden Teil der Kinderbetreuung übernehmen oder sogar häuslicher Gewalt während der Arbeit im Homeoffice ausgesetzt sind. Und es ist ein Privileg, nicht vom Armutsrisiko Nummer eins in Deutschland betroffen zu sein: alleinerziehend und weiblich zu sein. Warum spreche ich von Privilegien? Weil die einen etwas haben oder sich nehmen, was anderen vorenthalten wird.
Nein, man kann kein Leid generell gegenüber einem anderen erhöhen oder herabsetzen, auch wenn das persönlich verständlich ist. Politisch ist jeder Kampf gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit gleich wichtig. Die Gegensätze lösen sich erst auf, wenn es eine Solidarität Aller mit Allen gibt – eine internationale Solidarität. Denn natürlich hilft es der einheimischen Wirtschaft, wenn Deutschland immer neue Rekorde bei den Rüstungsexporten erzielt. Es entstehen neue Arbeitsplätze, bestehende werden gesichert, die Unternehmen machen Gewinne, der Staat erwirtschaftet Steuereinnahmen. Würden diese Gewinne fair zwischen Staat, Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen verteilt, entstünde eine Win-win-Situation – für Deutsche. Aber während Sabine und Uwe sich hier über Arbeitsplätze, Gewinne und Steuern freuen, fliegt anderswo Samira und Ahmed ihr Haus um die Ohren während sie beobachten, wie ihre Eltern oder Kinder mit deutschen Waffen erschossen werden. Oder sie ertrinken auf der Flucht im Mittelmeer – was im Norden ja auch niemanden interessiert, wie vor einigen Tagen wieder schmerzhaft deutlich wurde.
Und wenn darüber geredet wird, dass doch nicht alle kommen können und nicht jeder und jede, die das sagen, deswegen Nazi sei, sondern dass sie nur Angst um ihre Arbeitsplätze hätten, so wird genau diese internationale Solidarität dabei vergessen. Deutsche nehmen sich heraus zu bestimmen, wer kommen darf und wer nicht. Der eigene Wohlstand, aufgebaut auf dem Blut und der Armut des globalen Südens wird hingegen nicht hinterfragt. Es mag ungerecht sein in Deutschland, dass die einen Porsche fahren und die anderen Flaschen sammeln. Es ist aber auch Fakt, dass unsere gemeinschaftliche Party im globalen Norden dazu führt, dass sich Tausende auf den Weg machen (müssen). Weil sie keine andere Wahl haben. Die Bekämpfung von Fluchtursachen ist sicher wichtig, auch würden vielleicht die abgewanderten Arbeitskräfte eines Tages in ihren Herkunftsländern bei einem Wiederaufbau gebraucht. Für solche strategischen Diskussionen haben Samira und Ahmed nur leider gerade wenig Zeit auf ihrer Flucht vor dem Krieg – ihnen bleibt nur der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer und das vielleicht jahrelange Vegetieren in elenden Flüchtlingslagern.
Privilegien sind es auch, die bedroht scheinen, wenn Männer sich über das Gendersternchen aufregen, Heterosexuelle Geschlechternormen bedroht sehen oder Weiße ohne koloniale oder postkoloniale Unterdrückungserfahrung entscheiden wollen, ob eine Diskussion um die diskriminierende Bezeichnung „M*****straße“ gerechtfertigt sei oder nicht. Ebenso wollen weiße Menschen weiterhin preiswert nach Mallorca oder New York jetten, halten es aber gleichzeitig für ihr Recht, anderen Menschen den Zugang nach Europa zu verwehren.
Seit mehr als 125 Jahren ist der 1. Mai ein Kampftag für Arbeiter:innenrechte. Nur sollten wir erkannt haben, dass es sich nicht (nur) um einen eindimensionalen und nationalen Konflikt Arm gegen Reich handelt. Der Konflikt ist komplexer, die Antwort aber sehr einfach: internationale Solidarität und gleiche Rechte für Alle. Denn wenn es falsch ist, dass mehrheitlich weibliche Pflegekräfte in Deutschland unterbezahlt sind, dann ist es auch falsch, dass weltweit„235 Millionen Menschen keinen Zugang zu Nahrung, Wasser und sanitären Einrichtungen“ haben. Es ist falsch, dass Mehrheiten oder Minderheiten, insbesondere als „Machtinhaber:innen“ selbstgerecht beurteilen, wie andere Menschen zu leben haben, ob deren Ungleichbehandlung schlimm oder nicht schlimm ist, und ob sie Zugang zu Ressourcen bekommen oder nicht. Und es ist falsch, dass Menschen auf der Flucht die Mittel zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse vorenthalten werden. Wie weit her es mit unserem Streben nach Gerechtigkeit und dem Kampf gegen Ausbeutung ist, merken wir immer dann, wenn unsere eigenen Privilegien vermeintlich gefährdet sind.
Eine andere Welt ist möglich. Die bessere Welt heißt aber nicht, ich muss mich nicht ändern, ich muss nichts hergeben, ich muss mich nicht reflektieren – alle Privilegien für mich. Die bessere Welt heißt: Wir kämpfen um gleiche Rechte für Alle, gegen Diskriminierung und Ausbeutung, scheitern daran täglich, und probieren es wieder… Und wenn ich mich nach meiner Corona-Impfung wieder frei durch die ganze Welt bewegen können will, muss ich dieses Recht auch allen anderen Menschen zugestehen, egal welcher Hautfarbe, egal ob weiblich, männlich oder intersexuell, egal ob arm oder reich, egal ob im Süden oder im Norden lebend. Es geht nicht um Privilegien für Wenige, sondern um gleiche Rechte und Zugänge für Alle. Deshalb: Gegen Diskriminierung und Ausbeutung, für internationale Solidarität mit Geflüchteten, heraus zum 1. Mai!
Axel Grafmanns, Geschäftsführender Vorstand von Wir packen’s an