„Ich habe mehrmals das Game versucht, fünfmal“ berichtet uns M. „Als mich die Polizei in Kroatien aufgelesen hatte, haben sie mir alles weggenommen, mich verprügelt und in den Fluss geworfen“. Wir sind an der EU Außengrenze in Bosnien. Tausende warten hier monatelang auf eine Chance in die reiche Zone zu kommen, das einzige was sie tun müssen, ist das „Game“. Der Versuch, einer Welt aus Armut, Perspektivlosigkeit und Krieg zu entkommen, und die Festung Europa, bewacht von einer hochgerüsteten Polizei mit Drohnen und Wärmebildkameras, zu überwinden.
Ein paar Stunden vorher: Nach 14 Stunden Fahrt sind wir angekommen in Bosnien. Milan, von unserem Kooperationspartner SOS Balkanroute, wartet schon und hat alles super organisiert. Nach ein paar Stunden Schlaf kaufen wir für über 5.000 € dringend benötige Hilfsgüter, um den Engpass zu überbrücken, der bis zur Ankunft unseres nächsten Trucks besteht bzw. auch Dinge, die wir nicht liefern können: warme Hosen, Handschuhe, Gaskocher, Schuhe, Powerbanks…
Die Lage ist etwas anders als in Griechenland. Das offizielle Lager in Velika Kladuša hat Container und ein paar Duschkabinen, auch wird ein schlechtes Essen jeden Tag ausgegeben an die ca. 700 Bewohner*innen. Nur ist es leider vollkommen überfüllt. Das führt dann dazu, dass jede Nacht über 500 weitere Menschen versuchen ins Lager zu kommen, die außerhalb im „Dschungel“ hausen und gar keine Versorgung erhalten. Am nächsten Tag werden sie wieder rausgeworfen. Doch das ist nur die eine Seite der Realität. Wie in Deutschland gibt es auch in Bosnien Faschisten und Rechtsradikale, es gibt aber auch Personen wie Z., eine junge bosnische Frau, die sich schon seit Jahren für Geflüchtete engagiert, oder einen bosnischen Hausbesitzer, der einer irakischen Familie mit Kindern eine Wohnung zur Verfügung stellt.
Viele Menschen, die es bis hierher geschafft haben, vegetieren im Wald unter erbärmlichen Bedingungen. Versuche einfach mal im Winter 4 Tage draußen ohne ein ordentliches Zelt und Nahrung oder Duschen zu leben. Du wirst frieren, du wirst schlecht schlafen, du wirst Hunger haben, du wirst krank werden. Genau das passiert gerade in Bosnien, nur nicht 4 Tage, sondern über Monate und Jahre. Wir verteilen Schlafsäcke. Die Bewohner des schlammigen Waldstückes am Hang haben sich behelfsmäßig eine Art Zelte zusammengebaut. Der Hang ist extrem rutschig. Ein paar der Menschen hier haben Hautkrankheiten wie Krätze. Wo sind wir eigentlich, in Europa? Es erinnert mich eher an eine Dschungeltour in Kolumbien in der Regenzeit, die ich mal vor Jahren gemacht habe – nur eben als Dauerzustand und nicht in tropischer Wärme sondern in klirrender Kälte ohne viel Chancen auf ein gutes Ende. Die Menschen hier sagen auch „Dschungel“ dazu, allerdings ein anderer Dschungel als in Kolumbien.
Heute ist ein trockener Tag, aber wie ist es denn, wenn es hier regnet? Die Menschen sind sehr freundlich, aber haben nichts außer ihrem Unterstand mit ein paar wenigen Dingen drin. Manche verfügen nicht mal über Schuhe bei Temperaturen um die Null Grad oder eine warme Jacke. Sie träumen davon, es in die reiche Zone zu schaffen, und versuchen das „Game“ einmal, zweimal, fünfzigmal. Die meisten werden immer wieder aufgegriffen, völkerrechtswidrig misshandelt und völkerrechtswidrig zurück geschickt. Du musst schnell und schlau sein, viel Glück haben, um das „Game“ zu gewinnen. Die meisten scheitern. „Mockingjay“ gibt es nur in Hollywood, in der Realität hat das reiche Europa seine Augen verschlossen und sein Herz verriegelt. Es ist ein kalter, eisiger Kontinent, auf dem die Menschen am Ende ihres oft langen Weges stranden.
„Ich habe mir im Sommer zwei Monate Zeit gelassen, um durch Bosnien zu reisen und mir die verschiedenen Hotspots angeschaut, nirgend ist es so schlimm wie in Velika Kladusa,“ meint eine Aktivistin. In den letzten Wochen war das Lager Lipa viel in den Schlagzeilen, wo die Situation immer noch gruselig ist. Aber so wie es neben dem Horror Camp Kara Tepe (Moria2) auf Lesbos die grausamen Lager Vial auf Chios oder Vathy auf Samos gibt, so ist das ganze Scheitern der Menschlichkeit Europas in Bosnien nicht mit Bihac und dem Lager Lipa beschrieben. Und unser Motto bleibt: Wir schauen dahin, wo niemand hinschaut. Gegenwärtig nach Velika Kladuša.
Ein versöhnlicher Ausgang am Tagesende, der Kontrast könne nicht größer sein zu den Menschen am Hang: Wir sind in der Wohnung des bosnischen Hausbesitzers, der eine irakische Familie beherbergt. Kinder lachen und turnen auf uns herum, die Familie kocht für uns. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen die Einladung zum Essen annehmen, und uns am gefüllten Tisch niederlassen, die Familie bringt immer mehr Essen… Wir essen also die Nahrung von Menschen, die sowieso schon sehr wenig haben, denen aber Gastfreundschaft sehr viel bedeutet. Zur Menschenwürde gehört eben nicht viel, da gehören ein paar materielle Sachen dazu, ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen, ein paar Klamotten. Dazu gehören aber auch immaterielle Sachen wie Respekt, Wertschätzung und Geben-Können dazu, und wenn es eine warme Mahlzeit ist. Es gehört definitiv kein Leben im Schlamm und keine „Hunger Games“ dazu, das sollte in Hollywood bleiben. Und Menschen sollten es nicht nötig haben, ihr Leben zu riskieren auf der Suche nach einer Perspektive und Zukunft. Die Würde des Menschen ist nämlich unantastbar, oder?
=> Tag 1: Unsere Ankunft in Bosnien
=> Tag 3: Nothilfe gegen den Hunger in Velika Kladuša
=> Tag 4: 1000 Schuhe gegen die Kälte – Lager Lipa